Volksmusik von Tigray und andere musikalische Abenteuer

Fragen zu speziellen Riffs oder Techniken bestimmter Stücke, alles über Bending, Overblow und andere Techniken.

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triona
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Volksmusik von Tigray und andere musikalische Abenteuer

Beitrag: # 128601Beitrag triona »

Dies ist die Fortsetzung einer Themenabschweifung von hier:
viewtopic.php?p=128597#p128597

Um den Faden zu Howard Lewys neuem Buch nicht zu überdehnen, und um diesem Thema seinen eigenen angemessenen Platz zu geben, mach ich jetzt hier weiter mit einem neuen Faden.


N0us hat geschrieben: 13.01.2023, 16:01 ... inwiefern es beizeiten hilfreich sein kann, [daß] statt [auf] Noten oder Tabs rein auf Rhythmische Abfolge des Atmens geschaut wird.
Da geht er [Howard Lewy] auch in diesem (tollen) VIdeo ab ca 1:40 drauf ein
https://www.youtube.com/watch?v=LDAVEWWgyv4&t=283s
Für bestimmte Sachen empfinde ich es als sehr hilfreich, ich setze mich z.B. gerade mit Folksmusik aus Tigray auseinander, und ich denke, mir wird diese Methodik durchaus dabei helfen, bestimmte Melodien und Licks zu erfassen.
[Satz durch mich ergänzt, so wie ich es verstanden habe; ebenso Bezug eingefügt]
N0us hat geschrieben: 13.01.2023, 17:18 ... hier wären Beispiele:
https://www.youtube.com/watch?v=9gG8vzkMEPY
---
Es gibt leider nicht so viel traditionelle Musik aus der Region und die Contemporary Musik kann ich zwar auch mal hören, aber geht für mich genau der Sound oftmals verloren, den ich wirklich magisch finde.
Nein, die Harp ist dort Null verbreitet soweit ich weiß, aber der Sound der Masenqo gefällt mir so gut, dass ich mich primär daran orientiere und ich glaube, da ist durchaus eine tonale Nähe.

Als erstes Mal ein paar Informationen, daß sich alle hier ein besseres Bild machen können, wovon hier überhaupt die Rede ist:

https://de.wikipedia.org/wiki/Tigray_(Region)

https://de.wikipedia.org/wiki/Masinko
https://de.wikipedia.org/wiki/Krar
https://de.wikipedia.org/wiki/Beganna

Ich hab mir jetzt mal das ganze Video von Eyasu Berhe angehört. Ich weiß natürlich nicht, ob dieses einzige Beispiel jetzt repräsentativ ist für das was du meinst.

Dazu habe ich noch eine Weile in diese Wiedergabeliste reingehört, wo auch noch andere Interpreten zu hören sind, aber eben hauptsächlich nur Lieder der TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray):
https://www.youtube.com/watch?v=kD4X4IF ... 2A&index=1

Dazu noch zum besseren Verständnis:
https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrg ... en_ab_2020
https://de.wikipedia.org/wiki/Volksbefr ... von_Tigray

Da Wikipedia in solchen Fragen bekanntlich kritisch betrachtet werden muß, empfiehlt es sich, sich auch noch aus anderen Quellen zu informieren. Hier soll es aber genügen, weil es sonst schnell den Rahmen des Aufsatzes sprengen würde.

Ich verstehe ja kein Tigrinya. Aber es scheint sich vorwiegend um politische Kampflieder zu handeln. Sie erinnern mich stilistisch stark an die Chimurenga-Lieder aus Zimbabwe in den 1970-er und 1980-er-Jahren, wie sie z.B. von Tomas Mapfumo und teilweise auch von Oliver Mtukudsi – nur um die bekanntesten und auch kommerziell erfolgreichsten zu nennen - und sicher auch von einigen anderen gesungen worden sind. (Ich hab da außer ein paar Platten von den oben genannten z.B. auch noch ein paar Musikkasetten von Chören der ZANU. Falls du dich dafür interessierst könnte ich ja mal versuchen, Kopien zu machen.)

Da sind auch ein paar ausgewachsene und professionell gemachte Propagandaproduktionen dabei. Gerade bei den singenden Kampfeinheiten. Möglicherweise wurde sogar das eine oder andere davon im fernen Ausland hergestellt, weit weg vom grausamen Bürgerkrieg – mit welchem Geld auch immer. Diese Damenkapelle in den schicken Anzügen in den Farben der Flagge und den glitzernden modernen Instrumenten ist da möglicherweise ein Beispiel dafür:
https://www.youtube.com/watch?v=dLMoHBFVD0M

Da ist übrigens auch eine Masenqo und eine (modernisierte und elektrifizierte) Krar nicht nur zu hören, sondern auch im Bild zu sehen. Die Krar scheint heutzutage immerhin noch häufiger gespielt zu werden als die Masenqo. Vlt liegt das ja daran, daß die sich leichter elektrifizieren läßt? Und mehrstimmiger Chorgesang – meistens a capella – hat ja in ganz Afrika eine lange Tradition.

Auch dieses Video mit den Tänzerinnen in auffallend einheitlichen Trachten scheint mir eher eine Art Polit-Folklore zu sein, obwohl es sich musikalisch sicher an traditionelleren Vorbildern orientiert:
https://www.youtube.com/watch?v=vRs63T9FlUA

Ich nehme an, daß du das alles eher zu der „Contemporary Musik“ zählst. Wie sich die traditionelle Musik der Region anhören mag, kann ich mir vlt vage vorstellen aufgrund der zeitgenössischen Beispiele und dem, was ich von den mir bekannteren Volksmusiken z.B aus Deutschland und Europa und auch anderswo kenne. Das ist aber eine gedankliche Abstraktion. Wissen tu ich das nicht.

Und das mit dem Spotify habe ich bislang auch noch nicht ausprobieren können. Könntest du da vlt ein mp3 von deinen beiden Lieblingsliedern erstellen und hier reinstellen? So als beispielhaftes Zitat zu Bildungszwecken dürfte das doch urheberrechtlich nicht so problematisch sein?

Auch das ist sehr hübsch anzusehen und anzuhören. :) Aber ich vermute, auch das ist eher Folklore:
https://www.youtube.com/watch?v=lOpm2fydtQk


Zurück zu dem Video von Eyasu Berhe, auf das du verwiesen hast. Ganz nebenbei bemerkt: Bei dem letzten Lied, das Bilder von einer feinen Tanzgesellschaft zeigt, kann man auch sehen, daß diese Leute ganz sicher nicht zu den ärmsten Menschen in diesem kriegsgebeutelten und ausgehungerten Land zählen.

Aber jetzt zur Musik: Die oben erwähnten Kampf- und Propagandalieder hören sich ja bisweilen eher wie derartige Lieder aus anderen Teilen Afrikas an. Auch die besonders in Simbabwe und Südafrika beliebten Stile wie Merengue oder Jive klingen öfters an. Auch an Reggae erinnert es mich bisweilen. Die jamaikanischen Musiker reden ja auch immer viel von ihren äthiopischen Wurzeln. Das dürfte sich allerdings wohl eher um religiöse Folklore handeln.

Das Video allerdings klingt in meinen Ohren streckenweise eher wie Musik aus Thailand, Vietnam oder China. Ich vermute mal, daß ich auf den Liedern #4 und #6 eine Masenqo heraushören kann, und auf #5 eine Krar. (In China gibt es ja mit der Erhu auch so eine ähnliche Geige wie die Mesenqo.)

Wenn du dich mit der MuHa klanglich an dem orientieren willst, was ich für den Klang einer Masenqo halte, dann empfehle ich dir, auch mal die entsprechenden Aufnahmen von chinesischer Musik von Brendan Power anzuhören, der sich nach eigenen Angaben auch bewußt an dem Klangbild einer Erhu orientiert:
https://brendan-power.com/NewChineseHarmonica.php

Ein interessantes Instrument in diesem Zusammenhang ist sicher auch seine Asia Bend:
http://www.brendan-power.com/xreed/products.php#view8

Sie gehört übrigens zu den ganz wenigen MuHa-Typen, die ich noch nicht spielen kann. :oops: Die Nur-Ziehtöne-Technik und den ergänzenden Gebrauch von Overblows habe ich gnadenlos unterschätzt. Und deshalb führt sie bislang eher ein trauriges Dasein im MuHa-Koffer, wo sie noch immer fabrikneu glänzt und nur ganz selten das Tageslicht erblickt. :cry:

Ich hoffe, daß ich da von Brendan noch ein paar Tips bekommen kann, wie ich es anpacken kann. Vlt ist diese Schulung in Klingenthal ja auch etwas für dich:
https://www.seydel1847.de/experten-workshop

Vlt sieht man sich dort ja mal? Ich hoffe, daß mir mein Gesundheitszustand keinen Strich durch die Rechnung macht.


Auch am intensiven Üben von Legato führt nichts vorbei, wenn man auf einer MuHa ähnlich wie Streichinstrumente klingen will. Womit wir wieder angelangt wären bei den irischen, skandinavischen usw Geigen, die ich hier bereits erwähnt hatte:
viewtopic.php?p=128597#p128597
Und hier könnte Howard Lewys Ansatz tatsächlich einige gute Übungsfortschritte ermöglichen.


Noch eine Frage zum Abschluß:
Wie bist du eigentlich auf Volksmusik aus Tigray gekommen?
Warst du da mal? Oder kennst du da Leute? Mit denen du womöglich noch zusammen musizierst?


Und noch eine kleine Geschichte am Rande des Themas: :)
N0us hat geschrieben: 13.01.2023, 17:18 ... die Harp ist dort Null verbreitet soweit ich weiß, ...
Das scheint wohl in den meisten Gegenden Afrikas so zu sein. In Rwanda und Burundi z.B. gab es stets große Trommelorchester, überall auf dem Land - ich vermute mal, heutzutage vorwiegend Hobbymusiker aus Spaß an der Freud, traditionell wohl auch (oder nur?) in religiösen Kulten.

Teilweise gab es aber auch staatlich geförderte Orchester. Ich habe einmal (2010) das Staatsorchester von Rwanda gehört. 40 Trommler auf der Bühne, jeder mit einer Trommel so groß wie eine große Mülltonne, gespielt mit 2 fast armdicken Knüppeln. Das hörte man in der Nacht noch wummern bis auf den Campingplatz, der 1 km entfernt war - ohne jegliche elektrische Verstärkung.

In diesen Trommelorchestern durften traditionell - und wahrscheinlich auch aus religiösen Gründen - ausschließlich Männer spielen. Nun haben sie dort aber im Laufe des letzten Bürgerkriegs wohl einen größeren Teil der männlichen Bevölkerung umgebracht.

Und siehe: Es hat nur wenige Jahre gedauert, und nach dem Krieg gibt es dort fast nur noch Trommelorchester mit ausschließlich Frauen! Das ist dann wohl die harte Tour der Emanzipation. Traurig, daß es immer erst so weit kommen muß, bevor sich irgendwas zum Besseren ändert.


Einer der Trommler des Staatsorchesters hat mir damals jedenfalls eine meiner Mundharmonikas abgeschwatzt. Er war so begeistert davon, wie ich da auf einer kleinen Session mit meinem kleinen unscheinbaren Instrument mit 4 solchen Trommeln mitgespielt habe, ohne akustisch unter zu gehen, daß er das unbedingt auch mal probieren wollte. Er hatte zuvor noch nie eine MuHa gesehen oder gehört.

Ob das auch zur Verbreitung der MuHa in Rwanda beigetragen hat, weiß ich allerdings nicht; ob der Mann überhaupt noch lebt, auch nicht. Das Orchester scheint es jedenfalls nicht mehr zu geben. Ich finde jedenfalls im Netz nichts mehr dazu. Und auf YT findet man neben einigen offensichtlich aus Amateuren bestehenden Hinterhof-Kapellen nur noch Frauenorchester.


liebe grüße
triona
Dess daacht doch alles nischt, dess naimodisch Zaich.
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Meine Nachbarn hören Mundharmonika, ob sie wollen oder nicht.


https://www.youtube.com/channel/UC1yI3H ... 9ktgzTR2qg
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N0us
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Re: Volksmusik von Tigray und andere musikalische Abenteuer

Beitrag: # 128604Beitrag N0us »

Wow! Da hast du dich in kürzester Zeit echt gut informiert! Das finde ich toll :)
Ja, leider sind Kriege und damit einhergehend auch Propaganda derartig verwurzelt in der Region, dass leider eine Trennung zwischen Krieg/Propaganda/Kultur/Folk mitunter nur sehr schwer möglich ist.
Bereits in dem anderen Thread bist du ja auf die vielen Stimmungen eingegangen, die für mich absolutes Neuland sind.
Ich bin zwar sehr flüssig mit allen OB‘s und OD‘S, bin mir aber bewusst, dass es wohl Sinn macht, für bestimmte Dinge durchaus eine andere Stimmung zumindest mal auszuprobieren. Da werde ich mich auf jeden Fall nochmal mehr reinlesen, vielen Dank für den Input!!

Der Punkt mit der Chinesischen Musik ist ein guter Hinweis, da habe ich mich bisher zwar ein bisschen,aber definitiv zu wenig auseinandergesetzt. Zumal mein Onkel mit meiner Frau in China leben, „Ressourcen“ hätte ich also :-D

Aber zurück zu Tigray: Tatsächlich werden viele der heutigen Videos teilweise im Ausland gedreht, schlichtweg da viele Leute geflüchtet sind, jedoch gibt es auch sehr viele Musiker (eben auch viele Frauen), die noch in Tigray an der Front kämpfen und eben auch Musik machen und produzieren.

Die identischen Kleider sind tatsächlich Kriegsunabhängig und teil der „Grundausstattung“ von Frauen, welches bei vielen religiösen und kulturellen Anlässen getragen wird. Auch die gleiche Frisur wird oftmals zu verschiedenen Festen getragen, die dankbarerweise nichts mit Krieg zu tun haben (Es gibt eine Art „Fest der Frauen“ welches sich über mehrer Wochen erstreckt, bei dem auch Tausende von Frauen die exakt gleichen Kleider und Frisuren tragen).

Und zu der Frage, wie ich dazu gekommen bin:
Meine Lebensgefährtin ist aus Tigray geflohen, daher habe ich da entsprechend den Input. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, mit einem der Musiker zusammen zu „jammen“ , ist aber auch für dieses Jahr angesetzt. Und falls irgendwann mal Frieden dort einkehren sollte, entsprechend auch eine Reise dorthin.

Aber Triona, ich muss wirklich sagen, vielen Dank für den super wertvollen Input, da gibts so viele Sachen, in die ich mich einlesen werde, gerade die Tunings. Das Ding in Klingenthal werde ich mir mal anschauen, sieht sehr interessant aus und ein Workshop von Brendan Power scheint mir da sehr wertvoll zu sein.

Zumindest haben auch deine Ausführungen mich nochmal bestätigt, dass das Buch von Howard bestimmt einen Wert für derlei Exkurse bietet.

Danke und beste Grüße
Till
triona
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Re: Volksmusik von Tigray und andere musikalische Abenteuer

Beitrag: # 132302Beitrag triona »

Bist du eigentlich mit der Volksmusik aus Tigray weiter gekommen?


liebe grüße
triona
Dess daacht doch alles nischt, dess naimodisch Zaich.
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